Eine Reise auf den Spuren der Revolution.

Palino Theater Baden (CH) | 2017

Idee: Hilde Schneider und Stella Palino
Textcollage und Regie: Hilde Schneider

mit Maren Gamper & Yannick Longet vom Theatre Coleoptérè, Xavier Mestres Emilio, Justyna Karpinski, Jana Selina, Vanessa Torres Alvarez, Stella Luna Palino, Susann Moser, Daria Reimann & Marcos Bento vom Tanztheater Baden

Produktionsleitung: Aicha Mham
Regieassistenz: Isabel Ursprung

Wurde die Oktoberrevultion in der Schweiz vorbereitet? 100 Jahre danach wirft ZÜRICH-PETROGRAD einen Blick zurück auf ein weltgeschichtliches Ereignis, das die Machtverhältnisse nicht nur in Russland grundlegend verändert hat. Vorgeschichte und Nachwehen werden beleuchtet. Helden, Opfer und Erben der Revolution treten auf. Text, Musik und Tanz verbinden sich zu einem ganzeitlichen Erlebnis. Nach unserer Produktion zum ersten Weltkrieg (AN WEIHNACHTEN SIND WIR ZURÜCK, 2014) wieder ein Spiel, das Geschichte erlebbar macht.

Website der Compagnia Teatro Palino

In Baden hat die Compagnia Teatro Palino die Inszenierung «Zürich-Petrograd, eine Reise auf den Spuren der Revolution» produziert, und man reibt sich erst einmal die Augen.
Wie kann sich ein Low-Budget-Unternehmen eine internationale Truppe von solcher Energie leisten? Die Antwort erschliesst sich aus einem Zitat, das das Herzstück des Abends ist, Swetlana Alexijewitschs Meisterwerk der Zeitgeschichte: «Secondhand-Zeit».
Das Regieteam Hilde Schneider und Stella Palino nämlich hält sich eng an die Bekenntnisse jener Menschen, die heute auf den Trümmern des Sozialismus leben. Dabei fällt das Zitat eines ehemaligen Frontsoldaten, bis heute ein überzeugter Kommunist: «Man darf uns nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilen! Uns kann man nur nach den Gesetzen der Religion beurteilen. Des Glaubens!»
Hier wie dort: Überzeugungstäter
Das Theater von Stella Palino war schon immer Glaubenssache, es ist eine Überzeugungstat. In diesem Fall passt die musikalische, materialreiche und im zweiten Teil literarisch aufgeladene Inszenierung perfekt an den Ort des Geschehens. Hier wird beständig Revolution gemacht, das Teatro Palino ist auch ein Ort der Utopie. Dass im ersten Teil der Textcollage Theater-im-Theater gespielt wird und Stellas Boudoir als Bordellbetrieb funktioniert – ein schmieriges Revuebühnchen, auf dem sich der Zeitgeist von 1917 trifft -, ist der ironische Kommentar zur Gegenwart. In Baden ist die Skepsis für das, was im Edel-Anarcho-Salon von Madame Stella geschieht, bisweilen erheblich.
In diesem Fall geschieht Bemerkenswertes. Hilde Schneider setzt das Dokument der Friedenspreisträgerin streng in Szene. Täter und Opfer, Gulag-Häftlinge und Henker, Soldaten, Funktionäre beschreiben die Sowjetunion als Lebensverhängnis. Die Menschen, die hier sprechen, sind widersprüchlicher Meinungen, innerlich zerrissen – die Geschichte des Kalten Krieges, so viel wird klar, ist noch längst nicht aufgearbeitet. Man kann das alles in Swetlana Alexijewitschs Dokument nachlesen. Oder man entscheidet sich für die Bühnenpräsentation – im wohligen Kollektiv.

NZZ Feuilleton, 08.11.2017 | Daniele Muscionico